Booklet

Der komplette Booklet-Inhalt steht Ihnen hier jederzeit zur Verfügung: Als Text oder als Download zum Ausdrucken auf DIN A4-Blätter eingerichtet.

 

Die Download-Version ist bewusst tintensparend ohne unnötige grafische Elemente gestaltet.

 

Die Texte stammen vom Interpreten selbst. Hier erfahren Sie auch, warum das Werk auf einer Orgel gespielt wird und welche Vorteile es bringt.

 

Die Registrierungen sowie das Track-Verzeichnis befinden sich zur besseren Übersicht nur in der Download-Version.


J.S.Bach: Das Wohltemperierte Clavier I

Jan Doležel auf der Brandenstein-Orgel



 

Das Wohltemperirte Clavier

durch alle Tone und Semitonia,

so wohl tertiam majorem oder Ut Re Mi anlan-

gend, als auch tertiam minorem oder Re

Mi Fa betreffend. Zum

Nutzen und Gebrauch der Lehrbegierigen

Musicalischen Jugend, als auch derer in diesem stu-

dio schon habil seyenden besonderem

Zeitvertreib auffgesetzet

und verfertiget von

Johann Sebastian Bach.

p. t: Hochfürstlich Anhalt-

Cöthenischen Capel-

Meistern und Directore

derer Camer

Musiquen.

Anno

1722.

 

Vorrede von J. S. Bach

 

 

Auf dieser Aufnahme treffen sich zwei Meisterwerke, die beide zur gleichen Zeit entstanden sind: Das Manuskript des "Wohltemperierten Claviers I" trägt die Jahreszahl 1722. Die Brandenstein-Orgel in Obereisenheim, die auf dieser Aufnahme erklingt, wurde nur ein Jahr früher erbaut: Im Jahr 1721.

 

Das "Wohltemperierte Clavier I" auf der Orgel

 

Johann Sebastian Bach wies seine Kompositionen für Tasteninstrumente meistens einem konkreten Instrument zu. Während der "Dritte Teil der Clavierübung" ausdrücklich der Orgel gewidmet ist, sind z.B. das "Italienische Konzert", die "Goldberg-Variationen" oder die "Englischen" und "Französischen Suiten" ausdrücklich für Cembalo bestimmt.

 

Das Wohltemperierte Clavier gehört zusammen mit der "Kunst der Fuge" zu den Werken, die eine Ausnahme bilden. Bach lässt hier - wohl bewusst - die Frage nach dem Instrument offen.

 

Bachs Inspiration: Johann Caspar Ferdinand Fischers "Ariadne musica“

 

Der direkte Vorgänger des "Wohltemperierten Claviers I" ist ein Orgelwerk: "Ariadne musica" von Johann Caspar Ferdinand Fischer (1656-1746). Fischer wurde in Schlackenwerth (heute Ostrov nad Ohří, Böhmen) geboren und wurde dort später Hofmusiker. Seine Ariadne musica wurde zum ersten Mal im Jahr 1702 herausgegeben und ist dem Abt Raimund Wilfert II. von Kloster Tepl (Teplá) in Böhmen gewidmet.

 

Einige Stücke aus dem Zyklus „Ariadne musica“ haben heute Platz in verschiedenen Orgelschulen gefunden. Hier werden sie wegen ihrem recht überschaubaren Umfang (kaum ein Stück dauert länger als zwei Minuten) gerne als Unterrichtsliteratur verwertet. Dabei sind es echte Juwelen der Orgelliteratur und wahre Meisterstücke. Fischer bringt in die Form von Präludium und Fuge eine unvergleichliche poetische Komponente, die es bis dahin nicht gegeben hat.

 

"Ariadne musica" besteht aus 20 Präludien und Fugen in 20 verschiedenen Tonarten. Die Stücke sind tonartlich aufsteigend in einem Kreis von C-Dur bis c-dorisch angeordnet: C-Dur, cis-Moll, d-dorisch, D-Dur, Es-Dur, e-phrygisch, e-dorisch, E-Dur, f-dorisch, F-Dur, fis-dorisch, g-dorisch, G-Dur, As-lydisch, a-Moll, A-Dur, B-Dur, h-dorisch, H-Dur, c-dorisch.

 

Anders als bei Bach erklingen zunächst die dunkleren „Moll“-Tonarten (meistens in Kirchentonarten notiert, was selbstverständlich eine innere Logik verfolgt), erst dann die hellen „Dur“-Tonarten. Auf die letzte Fuge c-dorisch müsste also nach dieser Logik wieder das Präludium C-Dur folgen, um den Kreis zu schließen. Stattdessen fügt Fischer noch fünf Choralbearbeitungen hinzu, die sich thematisch dem Kirchenjahr widmen: Advent, Weihnachten, Passion, Ostern, Pfingsten.

 

Das Präludium C-Dur fängt gleich wie im Wohltemperierten Clavier I mit einem Dreiklang in der Terzlage an. Später hat Bach in seinem Wohltemperierten Clavier II das Thema der Fuge E-Dur von Fischer wörtlich übernommen.

 

In der ersten Bach-Biographie von Johann Nikolaus Forkel finden wir Fischers Name unter den "berühmtesten Claviercomponisten jener Zeit." Aus einem Brief von Carl Philipp Emanuel Bach an Forkel geht hervor, dass Bach - neben den heute bekannteren Namen wie Buxtehude, Pachelbel oder Froberger - auch die Musik von "Capellmeister Fischer (...) geliebt u. studiert" hat.

 

Als Johann Sebastian Bach im Jahr 1720 mit seinem damaligen Dienstherrn Leopold von Anhalt-Köthen nach Karlsbad reiste, ist er also genau in das Umfeld gekommen, wo Johann Caspar Ferdinand Fischer lebte und seine "Ariadne musica" veröffentlichte. Schlackenwerth liegt von Karlsbad etwa 10 Kilometer entfernt, Kloster Tepl ist etwa 40 Kilometer weit.

 

Wahrscheinlich haben sich Bach und Fischer bei dieser Gelegenheit leider nicht persönlich getroffen. Fischer war spätestens ab 1715 als Hofkapellmeister in Rastatt in Baden tätig.

 

Wege zum Wohltemperierten Clavier I

 

Der Interpret kann und will nicht leugnen, dass seine Sichtweise über das Wohltemperierte Clavier I maßgeblich durch die Analysen von Prof. Chris-toph Bossert beeinflusst ist.

 

Prof. Bossert setzt die Entstehung des Wohltemperierten Claviers I in direkten Zusammenhang mit Bachs Reise nach Karlsbad im Jahr 1720. Erst nach seiner Rückkehr nach Köthen erfuhr Bach, dass während seiner Abwesenheit seine Frau Maria Barbara erkrankt, gestorben und nun seit ein paar Tagen begraben war.

 

Nach Prof. Bossert hat Bach in diesem Werk den Tod seiner Frau sozusagen geistig verarbeitet. Bossert stützt seine These auf zahlreiche zahlensymbolische Befunde, vor allem aber auf die von ihm postulierten „musikalischen Signaturen.“ Zu diesen zählen nicht nur die inzwischen allgemein bekannten Melodiewendungen wie die Kreuzfigur etc., sondern eine Vielzahl an kurzen, prägnanten Motiven, die einem aufmerksamen Interpreten viel mehr als ein abstrakter Deutungsversuch sind.

 

In dem Werk spielt sich ein Drama ab, wobei den Höhepunkt des Ganzen in Fuge a-Moll und Präludium B-Dur ein grandioses Bild der Auferstehung bildet. Interessierten Lesern wird hiermit die Lektüre der Analysen von Prof. Bossert wärmstens empfohlen.

 

Ein anderer Zugang zu dieser Musik erfolgt durch aufmerksames Musizieren auf der Orgel. Mit dem Orgelklang wird nämlich sehr schnell klar, dass dieses Werk durch und durch eine ganz intime Note atmet und keinesfalls eine bloße Fingerübung oder gar eine Art Etüden darstellt, wie es manchmal behauptet wird.

 

Das innere Drama dieser Musik wird aber erst durch eine Interpretation auf der Orgel wirklich darstellbar. Auf der einen Seite stehen subtile Stücke, die mit einem feinen Soloregister eine geradezu himmlische Harmonie abbilden. Auf der anderen Seite stehen wuchtige Stücke im Organo pleno, die eine immense Kraft ausstrahlen. Ebenso wichtig erscheint dem Interpreten die Möglichkeit, durch eine Mischung verschiedener Register eine Art Orchester (Ensemble) oder Chor darzustellen.

 

Alle diese Möglichkeiten entfallen natürlich, sobald das Werk auf einem Clavichord oder Cembalo gespielt wird, geschweige den auf dem modernen Flügel. Auf diesen Instrumenten ist die enorme Spannweite der Ausdrucksformen gar nicht so fundamental darstellbar wie auf einer Orgel.

 

Der fundamentale Klangwechsel zwischen den einzelnen Stücke hat natürlich einen großen Einfluss auf die empfundene Gesamtform. Aber es funktioniert auch umgekehrt: Die empfundene Großform verlangt nach bestimmten Registrierungen bei den Einzelstücken. Die Registrierung - also die klangliche Ausgestaltung des Werkes - ist also nur unter Beachtung der Beschaffenheit der einzelnen Stücke sowie der Gesamtform möglich.

 

Einrichtung für Orgel

 

Bei den Aufnahmen wurde aus den üblichen Noten gespielt, es wurden keinerlei Eingriffe in den Notentext notwendig. Die einzige Ausnahme befindet sich kurz vor dem Schluss der Fuge E-Dur: Durch das fehlende tiefe Cis im Manual, was bei der Registrierung mit Spitzflauten 4´ nicht im Pedal ersetzt werden konnte (indem im Pedal ein cis in der kleinen Oktave mit dem Subbaß statt dem tiefen Cis im Manual gespielt worden wäre), war es bei einer Achtelnote notwendig, statt dem Ton Cis den Ton E zu spielen.

 

Gemäß der süddeutsch-barocken Praxis erklingt bei einigen Orgelpunkten das Pedal zusätzlich zur Bassstimme im Manual. Besonders passend ist dies natürlich bei der Fuge a-Moll, in der am Schluss ein Orgelpunkt vorkommt, der sonst auf dem Cembalo oder Clavichord klanglich wegen seiner Länge und auch grifftechnisch gar nicht realisierbar ist.

 

Bei einigen Stücken wurde das Pedal entweder zum letzten Themenauftritt (Fuge cis-Moll, Fuge f-Moll) oder für die Markierung der Basstöne (Präludium e-Moll) genommen. Auch das Präludium B-Dur - der Höhepunkt des Werkes - wird in der zweiten Hälfte mit dem Pedal gespielt. Hier erklingt auch zum einzigen Mal das lauteste Register: Posaunenbaß 8´. Nur in der Fuge b-Moll wurde das Pedal generell für die ganze Bassstimme benutzt.

 

Die Brandenstein-Orgel von 1721 in Obereisenheim

 

Die Brandenstein-Orgel von 1721 in der evangelischen Kirche in Obereisenheim gehört zu den wichtigsten Barockorgeln im süddeutschen Raum. Auf den ersten Blick handelt es sich um ein sehr bescheidenes Instrument mit nur neun Registern auf einem Manual und zwei Registern im Pedal.

 

Wie für den süddeutsch-barocken Orgelbau typisch, wird entscheidender Wert auf die differenzierte Farbigkeit der Grundstimmen gelegt. Von insgesamt neun Manualstimmen sind sechs - also ganze zwei Drittel - verschiedene Grundstimmen in 8´- und 4´-Lage (wobei der Prinzipal 8´ nicht authentisch ist - siehe unten).

 

Durch die geschickte Auswahl oder interessante Registermischungen lassen sich viele ungewöhnliche Klänge bilden, die sonst in keinem anderen Orgelbaustil anzutreffen sind. Obwohl das Instrument zu den kleinsten Orgeln überhaupt zählt, eignet es sich durch die außerordentliche Klangvielfalt im Grundstimmenbereich hervorragend für die Wiedergabe des Wohltemperierten Claviers.

 

Das Instrument musste im Laufe der Zeit mehrere gravierende Eingriffe in seine Substanz erleben. Die wichtigsten Stationen sind wie folgt:

 

Im Jahr 1721 hat Johann Adam Brandenstein eine neue Orgel mit folgender Disposition gebaut:

 

Flaut 8´
Gedackt 8´
Quintatön 8´
Prinzipal 4´
Spitzflauten 4´
Quint 3´
Octav 2´
Quint 1 1/3´ (nicht eindeutig bewiesen)
Mixtur 3f. 1´

Subbaß 16´

 

Im Jahr 1739 wurde von Johann Rudolph Voit, Orgelmacher aus Schweinfurt, eine Sesquialtera (vermutlich Terz 1 3/5´) eingebaut, wahrscheinlich anstelle der Quinte 1 1/3 ´.

 

Im Jahr 1752 wurde von dem selben Orgelbauer das Quintatön gegen eine Gambe 8´ getauscht und im Pedal wurde eine neue Windlade mit dem zusätzlichen Register Posaunenbaß (vermutlich 8´) eingebaut. Darüberhinaus wurde die Orgel auf ihren heutigen Standort über den Altar versetzt. Dadurch erhielt die Orgel folgende Gestalt:

 

Flaut 8´
Gedackt 8´
Gambe 8´
Prinzipal 4´
Spitzflauten 4´
Quint 3´
Octav 2´
Sesquialtera (Terz) 1 3/5´
Mixtur 3f. 1´

Subbaß 16´
Posaunenbaß 8´

 

Im Jahr 1871 wurde von Andreas Franz Dietmann die Disposition der Orgel romantisiert und ein neuer freistehender Spieltisch gebaut. Der Posaunenbaß wurde beseitigt und durch einen Violonbaß 8´ ersetzt. Außerdem wurde anstelle der Terz ein Salizet eingebaut.

 

Bei diesem Umbau kam der heutige Prinzipal 8´ in die Orgel. Es handelt sich eindeutig um barocke Zinnpfeifen. Da ein 8´-Prinzipal nicht in der vollen Länge aufgestellt werden konnte (der Prospekt der Orgel ist nur 4´), musste die tiefe Oktave aus Holz gebaut werden. Wahrscheinlich handelt es sich um einen Prinzipal aus einer anderen Orgel, die zu diesem Zeitpunkt irgendwo anders aufgegeben wurde.

 

Die Disposition war nach dem Umbau durch A. F. Dietmann von 1871 wie folgt:

 

Prinzipal 8´
Flaut 8´
Gedackt 8´
Gambe 8´
Salizet 8´
Prinzipal 4´
Spitzflauten 4´
Octav 2´
Mixtur 3f. 1´

Subbaß 16´
Violonbaß 8´

 

Über die Herkunft der Pfeifen des Prinzipals 8´ wissen wir nichts Genaueres. Bei der Restaurierung der Orgel im Jahr 2005 stand also die Frage im Raum, ob dieses eindeutig nicht originale Register weichen soll und statt ihm die originale Terz 1 3/5´ oder sogar Quint 1 1/3´ rekonstruiert werden soll. Da es sich um ein klanglich sehr überzeugendes Register handelt (freilich muss man die tiefe Oktave aus Holz akzeptieren) und diese eindeutig barocken Pfeifen einem rekonstruierten Register weichen müssten, wurde es beibehalten. In der Obereisenheimer Orgel verrichtet der Prinzipal 8´ einen wunderbaren Dienst. Die zauberhaften Klangmischungen, die mit anderen Grundton-Registern entstehen, bestätigen nur die Richtigkeit dieser Entscheidung.

 

Im Jahr 1959 wurde das Instrument nach dem damaligen Kenntnisstand von E. Bauer restauriert. Dabei wurden leider die bis dahin erhaltenen Keilbälge beseitigt. Einige Einheimische können sich noch an die vermutlich originale Balganlage erinnern. Stattdessen wurden ein großer Magazinbalg sowie ein Elektromotor eingebaut. Bei diesem Umbau wurde die Gambe 8´ zu einem Choralbaß 4´ verkürzt.

 

Die Disposition nach dem Umbau durch E. Bauer im Jahr 1959 lautete:

 

Prinzipal 8´
Flaut 8´
Gedackt 8´
Prinzipal 4´
Spitzflauten 4´
Quint 3´ (neu)
Octav 2´
Terz 1 3/5´ (neu)
Mixtur 3f. 1´

Subbaß 16´
Choralbaß 4´ (aus Gambe 8´)

 

Bei der Restaurierung im Jahr 2005 gelang es der Firma Jann, und insbesondere dem Intonateur Frank Schüngel, das Instrument in die heutige Gestalt zu bringen. Trotz allen Änderungen ist das meiste Pfeifenmaterial mehr oder weniger original erhalten, lediglich die Quint 3´ und der Posaunenbaß 8´ mussten komplett neu rekonstruiert werden.

 

Ebenfalls wurde der freistehende Spieltisch von 1871 aufgegeben und ein Spielschrank rekonstruiert.

 

Dies ist die Disposition nach der Restaurierung durch die Firma Jann, 2005:

 

Principal 8´ (eingebaut von Dietmann 1871, barocke Pfeifen)
Flaut 8´
Gedackt 8´
Gambe 8´
Octav 4´
Spitzflauten 4´
Quint 3´ (rekonstruiert nach Kloster Weltenburg - J.C.Brandenstein)
Superoctav 2´
Mixtur 3f. 1´

Subbaß 16´
Posaunenbaß 8´

 

Die heutige Disposition entspricht also keinem Stadium aus der Geschichte des Instrumentes und darf als Kompromiss zwischen dem Zustand von 1752 und dem gewachsenen Zustand betrachtet werden.

 

Da die Pfeifen des Registers Gambe 8´ im vorgefundenen Choralbaß 4´ zweifelsfrei nachgewiesen werden konnten und somit eine Rekonstruktion möglich war, stand eine kompromisslose Restaurierung auf den Zustand von 1721 nicht zur Debatte. Dabei hätte gerade dieses wertvolle Register völlig aus der Orgel entfernt und mit einer rekonstruierten Quintadena ersetzt werden müssen.

 

Der Zustand von 1752 wäre theoretisch am einfachsten zu verwirklichen, dabei hätte aber der schöne Prinzipal 8´ - obwohl nicht authentisch - zugunsten einer rekonstruierten Sesquialtera (Terz 1 3/5´) weichen müssen.

 

Die Wahl ist auf das Beibehalten des Prinzipals 8´ gefallen. Bemerkenswert ist, wie ungezwungen sich die originalen Brandenstein-Register Flaut 8´ und Gedeckt 8´ mit den später hinzugefügten Registern Gambe 8´ und Prinzipal 8´ mischen.

 

(Quelle: nach der Archivarbeit von Orgelrestaurator Frank Schüngel)

 

Das Register Gambe 8´

 

Wahrscheinlich das wertvollste Register der Brandenstein-Orgel in Obereisenheim ist die Gambe 8´. Die Inspiration durch den Streicherklang ist unüberhörbar. Anhand von einigen gut erhaltenen Instrumenten im süddeutschen Raum (z.B. Klosterkirche Maihingen) können wir davon ausgehen, dass solche Klänge damals viel eher die Norm als eine Einzelerscheinung waren.

 

Die Gambe ist dabei denkbar einfach gebaut: Die 8´-Pfeifen haben genau den selben Durchmesser wie die Pfeifen dieser Taste beim Prinzipal 4´ (die Mensur ist also halb so weit). Die Intonation erfolgt ausschließlich über die Höhe des Kerns, ohne Kernstiche und sonstige Ansprachehilfen.

 

Der Ergebnis ist ein äußerst fragiler, brüchiger Ton, mit einem völlig ungedämpften Obertonspektrum. Gerade durch die besonders hohe Anzahl an Obertönen ist die Gambe sehr mischfähig. Im Obertonspektrum gibt es unzählig viele Berührungspunkte mit Obertonspektren von anderen Registern oder auch - und das ist vielleicht noch wichtiger - mit anderen Tönen aus der Gambe selbst.

 

Durch diese Mischfähigkeit entstehen viele unvorhersehbare Klangverbindungen, die scheinbar auf feinste Nuancen im Anschlag des Spielers reagieren. In der Tat ist es aber der aufmerksame Spieler, der sein Spiel auf die momentane Klangschattierung in der Gambe abstimmt. Fakt ist und bleibt, dass die Gambe ziemlich unterschiedlich klingen kann, je nach Spielart des Organisten. Bei der Produktion dieser CD wurden gerade die Stücke mit Gambe mehrmals aufgenommen und es gibt keine zwei Fassungen, die absolut identisch klingen würden.

 

Bei der Restaurierung der Orgel im Jahr 2005 wurde die Gambe in einem jämmerlichen Zustand vorgefunden, indem ihre Pfeifen zu einem Choralbass 4´ gekürzt waren. Es ist erstaunlich, wie es dem Intonateur Frank Schüngel gelungen ist, dieses Register wieder zum Leben zu erwecken. Hoffentlich werden solche Klänge durch adäquate Restaurierungen und Orgelneubauten wieder Teil unseres Klangverständnisses.

 

Obwohl die Gambe erst im Jahr 1752 in die Orgel eingebaut wurde, passt sie wunderbar zum originalen Klangbild der Orgel und zur Klangästhetik Bachs.

 

(Quelle: nach Mitteilungen von Orgelrestaurator Frank Schüngel)

 

Die Kunst des Registrierens

 

Im Unterschied zur Interpretation auf Cembalo, Clavichord oder Klavier bietet die Orgel eine wunderbare Möglichkeit an: ausgeprägte Klangfarbenwechsel.

 

Dabei betritt der Organist unweigerlich den Raum der Komposition. Jede Wahl der Klangfarbe wird nämlich zu einem formbildenden Element, das Einfluss auf die Gesamtform des Werkes und somit auf seine Wirkung hat.

 

Bach selbst hat offenbar die Klangfarben der Orgel mit sehr viel Fantasie genutzt. In seinem Werk "Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke" von 1802 schreibt Johann Nikolaus Forkel Folgendes:

 

"Zu allen diesem kam noch die eigene Art, mit welcher er die verschiedenen Stimmen der Orgel mit einander verband, oder seine Art zu registriren. Sie war so ungewöhnlich, daß manche Orgelmacher und Organisten erschraken, wenn sie ihn registriren sahen. Sie glaubten, eine solche Vereinigung von Stimmen könne unmöglich gut zusammen klingen; wunderten sich aber sehr, wenn sie nachher bemerkten, daß die Orgel gerade so am besten klang, und nun etwas Fremdartiges, Ungewöhnliches bekommen hatte, das durch ihre Art zu registriren, nicht hervor gebracht werden konnte.“

 

Die Registrierungen in dieser Aufnahme sind während eines langen Prozesses entstanden. Das wichtigste Kriterium war, das gespielte Werk in seiner Vielfalt zu zeigen. Gleichzeitig lag ein großes Augenmerk auf der Gesamtform, die durch das Registrieren unweigerlich beeinflusst wird.

 

Unwichtig war dagegen das Streben nach möglichst vielen unterschiedlichen und ungewöhnlichen Klangfarben. Es wäre überhaupt kein Problem gewesen, keine einzige Farbe in dem Werk zu wiederholen und mit 48 unterschiedlichen Registrierungen zu spielen. Es gibt viele weitere Registrierungen, die historisch belegt sind oder der Fantasie des Interpreten vorschweben, aber auf dieser Aufnahme nicht vorzufinden sind.

 

Das Werk wurde so einregistriert - man kann sagen: Es wurde ihm diese Klanggestalt verliehen - um möglichst die Form und den Inhalt des Werkes zu unterstreichen. Bestimmte Registrierungen wiederholen sich also, dies soll durchaus als reflektierte und gut überlegte Entscheidung betrachtet werden.

 

Auf dem begrenzten Platz eines Booklets ist es unmöglich, eine umfassende Darstellung der inneren Logik der Registrierung aufzuzeigen. Statt dessen werden hier einige Gedanken dargestellt, um mindestens eine kleine Einsicht in die Gedankenwelt des Interpreten zu ermöglichen.

 

Damit das Registrieren nicht in der Sackgasse einer Beliebigkeit endet, ist es zunächst notwendig, in bestimmten Kategorien zu denken. Diese können sich sowohl am Stück als auch an der Orgel, dem Raum und vor allem dem Klang der einzelnen Register orientieren.

 

Einige Kategorien seien hier genannt:

 

- Einzelstimmen versus Mischungen (quasi Solo versus Orchester)
- Einzelne Stücke versus Gesamtform
- Verlauf einer Strecke, Steigerung oder Reduktion
- Weite Phrasen versus Polyphonie (langfristige versus kurzfristige Ereignisse)
- Raum füllen versus in den Raum wenige Impulse schicken
- Weite versus enge Mensur
- Offene versus gedeckte Pfeifen
- Metallpfeifen versus Holzpfeifen
- Schnelle Ansprache versus langsame Ansprache
- Entwicklung im Tonverlauf einer einzelnen Pfeife
- Interferenzen versus Verschmelzen zwischen einzelnen Registern usw.

 

Jedes Register verhält sich wie ein selbstständiges Instrument. Für die Wirkung eines jeden Stückes ist es von großer Bedeutung, ob es nur von einem Instrument, oder gleich von mehreren gleichzeitig gespielt wird.

 

So erscheint es dem Interpreten z.B. beim ersten Präludium C-Dur sowie beim letzten Präludium h-Moll zwingend, diese mit einer Solofarbe zu spielen. Eine Mischung wäre hier zwar auch denkbar, die elementare, in sich gekehrte Wirkung dieser Musik entfaltet sich aber umso mehr, je einfacher der Klang ist.

 

Ein Kontrast zwischen einer Mischung und einer Solofarbe lässt sich sehr gut in der Strecke von Präludium es-Moll bis zu Fuge E-Dur studieren. Hier geht es von einer Mischung aus Flöte und Gedackt (Präludium es-Moll) über die Reduktion zur Flöte Solo (Fuge dis-Moll). Einer weiteren Reduktion von offener Flöte zum schlichten Gedackt (Präludium E-Dur) folgt die Reduktion um eine Oktave höher mit Spitzflauten 4´ (Fuge E-Dur).

 

Eine wunderbare Mischung aus Prinzipal 8´, Flaut 8´ und Gambe 8´ setzt beim Präludium e-Moll einen gewaltigen Kontrast zur vorherigen Strecke und spannt den Bogen zurück zur Fuge Es-Dur, bei der es zum letzten Mal eine Mischung aus Gambe und Gedackt gegeben hat.

 

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Wirkung des Gedackt 8´. Dieses Register spricht am schnellsten an, wodurch die Ansprache und somit der Charakter anderer Register sehr leicht überdeckt werden kann. Beim Hören orientiert sich das menschliche Ohr sehr viel an den allerersten Klängen, die das Ohr erreichen (Gesetz der ersten Wellenfront). Von daher ist bei der Verwendung des Gedackts in Mischungen große Vorsicht geboten. Ein an sich leises Gedackt kann eine sonst interessante Mischung sehr schnell nivellieren.

 

Die Kombination aus allen vier 8´-Registern (Prinzipal, Flaut, Gambe, Gedackt) erklingt nur in der Fuge b-Moll. In diesem Fall ist die gewichtige Wirkung, die durch das Gedackt ausgelöst wird, für das gravitätische Stück von besonderer Bedeutung.

 

Gedackt 8´ eignet sich sehr gut für solistische Zwecke sowie für die wunderbare Mischung mit der Flaut 8´. Bei dieser Mischung entstehen immer leichte Interferenzen zwischen den zwei Registern, die auf ihre komplett unterschiedliche Obertonstruktur zurückzuführen sind. Machmal wird dieser Effekt auch als eine feine Schwebung bezeichnet. Für die süddeutsch-barocke Praxis handelt es sich um eine der wichtigsten Klangfarben.

 

Im Unterschied zur tragenden Flöte, die sich für weite Phrasen bestens eignet (z.B. Präludium Cis-Dur, Präludium H-Dur), bedeutet das Gedackt eine extreme Reduktion, da es von Natur aus nur die ungeradzahligen Obertöne (also quasi nur die Hälfte der Obertöne einer Flöte) hat. Dies hat zur Folge, dass sein Klang nur für kurzfristige Momente trägt, was ihn dafür wunderbar für Polyphonie prädestiniert, denn die liegenden Stimmen verdecken die Stimmführung der anderen Stimmen nicht (z.B. Präludium E-Dur, Präludium h-Moll).

 

Die Plenumformen sind bei der Orgel in Obereisenheim sehr vielfältig. Durch die sehr obertonreiche Intonation wirkt bereits eine Mischung aus 8´ + 4´ + 3´ + 2´ wie ein kleines Plenum. Dabei lässt sich die 8´-Lage unterschiedlich besetzen: Mit Prinzipal 8´ bei der hymnischen Fuge cis-Moll sowie bei der rhythmischen Fuge A-Dur, mit Flaut 8´ bei der lebhaft-tänzerischen Fuge G-Dur, oder mit Prinzipal 8´, Gedackt 8´ und Gambe 8´ bei der gravitätischen Fuge As-Dur.

 

In den Fugen gleich zu Beginn erleben wir die Steigerung im Prinzipalklang von der Fuge C-Dur (Gedackt 8´+ Octav 4´) über die Fuge c-Moll (Prinzipal 8´ + Octav 4´ + Quint 3´), Fuge cis-Moll (Prinzipal 8´, Octav 4´, Quint 3´, Superoctav 2´) bis hin zum reinen Prinzipalplenum in der Fuge D-Dur.

 

Die Gambe 8´ ist ein Schmuckstück der Orgel. Solistisch besetzt lassen sich wunderbare Klangeffekte wie bei den Präludien C-Dur und d-Moll erreichen. Für eine langsame Polyphonie ist sie ebenfalls sehr gut geeignet (Fuge gis-Moll). Besonders bei Tonwiederholungen wird deutlich, warum gerade diese geräuschhafte Intonation so wichtig ist: Das Register klingt beim richtigen Gebrauch in der tiefen Lage wie eine echte Viola da Gamba.

 

Dieser Effekt tritt nur dann auf, wenn bei der Intonation konsequent mutig vorgegangen wurde und die Obertöne nicht glattgebügelt sind, sodass sich der Klang auch während der Dauer eines Tones entwickelt und ständig verändert (genauso wie auf einem echten Streichinstrument, wo ein glatter Ton über seine ganze Dauer nur äußerst schwierig hinzukriegen wäre).

 

Die Mischungen mit der Gambe sind sehr vielfältig. Flaut 8´ und Gambe 8´ bilden zusammen eine sehr ausdrucksstarke, fast orchestrale Farbe (Präludium cis-Moll, Präludium f-Moll, Fuge fis-Moll). Durch Hinzunahme von Prinzipal 8´ entsteht eine reizvolle, breite Klangfarbe, die für zwei besonders gewichtige Stücke genommen wurde: Präludium e-Moll sowie die Fuge h-Moll.

 

Eine Mischung aus Flaut und Gambe ergibt im gewissen Sinne einen Prinzipal-Charakter. Da es in der Orgel auch noch einen echten Prinzipal 8´ gibt, darf man die Farbe für die letzte Fuge h-Moll als eine Art „Doppelprinzipal“ verstehen.

 

Die Einheit zwischen den letzten zwei Stücken kann auch so begründet werden:

 

Das Präludium h-Moll erklingt in der elementaren Farbe eines solistischen Gedackt 8 ´. Das Gedackt steht hier für ein Maximum an Reduktion. Dagegen erklingt in der Fuge h-Moll eine andere elementare Klangfarbe, nämlich Prinzipal 8´, der durch Hinzunahme von Gambe 8´ und Flaut 8´ als Doppelprinzipal zu einer chorischen Farbe erweitert wird.

 

Eine besonders wichtige Eigenschaft der Orgel in Obereisenheim - und eigentlich aller gut erhaltenen Barockorgeln überhaupt - ist der Verlauf der Lautstärke innerhalb der einzelnen Register. Das Maximum liegt dabei in der Tenorlage, in der zweigestrichenen Oktave erfolgt dann eine sanfte Abnahme in Richtung nach oben.

 

Das Anheben der Tenorlage - ungefähr zwischen kleinem g und eingestrichenen d - begünstigt das Wahrnehmen der Polyphonie, da die Mittelstimmen auf diese Weise einen akustischen Vorteil bekommen. Viel wichtiger ist aber die Abnahme im obersten Bereich der Klaviatur. Der Zauber der Spitzflauten 4´ in der Fuge E-Dur liegt besonders darin, dass die obersten Noten so fein erklingen. Auch das Ende der Fuge C-Dur wirkt deswegen so überzeugend, da der Akkord, der komplett in der zweigestrichenen Oktave im Prinzipal 4´ liegt, durch die Abnahme der Lautstärke nicht zu laut erscheint.

 

Der Effekt der Abnahme im oberen Bereich bezieht sich nur auf die wahrgenommene Lautstärke der Grundtöne - also der Töne, die wir bewusst hören. Besonders wichtig ist, dass das Obertonspektrum voll ausgebildet bleibt.

 

Die detaillierten Registrierungen finden Sie auf Seite 20 und 21.

 

Mit frischem Atem

 

Bei der Aufnahme wurde die Orgel ausschließlich mit „handgemachtem“, also geschöpftem Wind gespielt. Klangqualität und Mischfähigkeit der einzelnen Register wachsen nämlich mit der Windqualität. Die Qualität von geschöpftem Wind und von durch Orgelmotoren erzeugtem Wind unterscheidet sich. Entscheidend scheint dabei die Ruhe innerhalb der Windsäule zu sein:

 

Ein Orgelmotor speist den Balg ununterbrochen mit aufgewirbeltem Wind, was dazu führt, dass die Ansprache der Pfeifen etwas hektisch erfolgt. Ein sensibler Kalkant (Balgtreter) kann dagegen einen sehr ruhigen Wind produzieren, der mit der Windsäule gut trainierter Blasinstrumentalisten vergleichbar ist.

 

Wenn dieser ruhige Wind durch die Pfeifen fließt, wird der Klang der Orgel insgesamt viel geschmeidiger und die Ansprache der Pfeifen erfolgt ungezwungen. Davon profitiert auch sehr die Mischfähigkeit der Register untereinander, die vielleicht das überhaupt wichtigste Merkmal des süddeutsch-barocken Orgelstils ist.

 

Bei der Restaurierung der Orgel im Jahr 2005 waren leider keine Mittel vorhanden, um die originale Balganlage rekonstruieren zu können. Die Orgel besitzt also einen großen Magazinbalg (etwa 2 x 1 Meter), der sowohl mit dem Motor als auch fußgeschöpft werden kann. Da die Orgel beim Motorbetrieb ziemlich windstößig war, wurde auf dem Windkanal kurz vor der Manualwindlade ein kleiner Stoßbalg hinzugefügt.

 

Beim Spiel mit dem geschöpften Wind fällt auf, dass gerade dieser kleine Stoßbalg sehr störend ist. Die Windstößigkeit scheint in dem Fall direkt von ihm auszugehen. Da die Aufnahmen ohne Motor gemacht wurden, musste dieser Stoßbalg dabei zusammen gedrückt und dadurch außer Betrieb gesetzt werden. Genau die selbe Beobachtung hat der Interpret an der Baumeister-Orgel von 1737 in Maihingen gemacht. Hier wurden bei der Restaurierung Stoßbälge im Rückpositiv angebracht, die sich beim Spiel mit Motorwind zwar positiv auswirken, bei handgeschöpftem Wind aber sehr störend sind.

 

Obwohl die Balganlage also nicht mehr original ist, profitiert die Orgel enorm von geschöpftem Wind.

 

Jan Doležel

Dezember 2021